„Die Schwabenkinder“ und „Der Weg der Schwabenkinder“ – Start im März 2012
11.03.2012 | Interreg IV-Projekt
Die beiden Projekte „Die Schwabenkinder“ und „Der Weg der Schwabenkinder“ befassen sich mit dem sozialgeschichtlichen Phänomen der Arbeitsmigration der Schwabengänger. Bereits seit dem 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zogen Kinder zwischen 6-14 Jahren aus den Alpengebieten nach Oberschwaben, um sich auf Hütekindermärkten als saisonale Arbeitskräfte an die dortigen Bauern zu verdingen. In den beiden grenzüberschreitenden und von der EU durch das Interreg-Programm „Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein“ geförderten Projekten erforschen 27 Museen, Archive und Kultureinrichtungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und Italien das Thema Schwabenkinder, und erarbeiten jeweils eine dauerhaft eingerichtete Ausstellung oder Informationsstelle in deren Einrichtung.
Die einzelnen Museums-Stationen in Südtirol, Tirol, Vorarlberg, Graubünden, Liechtenstein und Oberschwaben werden durch einen Themenwanderweg miteinander verbunden, der die historischen Routen der Schwabenkinder aus den Alpen nach Oberschwaben markiert. Die Schwabenkinderwege können in mehreren Etappen von den Herkunftsgebieten der Schwabengänger nach Oberschwaben auf historischen und landschaftlich spannenden Wegen durch die Alpen erwandert werden.
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit setzt sich aus mehreren Projekt-Bausteinen zusammen: Ausstellungen, gemeinsame wissenschaftliche Recherche und Erstellen einer Datenbank, Museumspädagogik, Begleitprogramm, Wanderweg, Wanderführer, Austausch von Informationen und Kontakten.
Themenwanderweg und Wanderführer
Die unterschiedlichen Wanderrouten führen von Südtirol über Tirol und Vorarlberg nach Oberschwaben oder von Graubünden über Liechtenstein nach Bregenz und von dort weiter auf verschiedenen Wegen zum Bauernhaus-Museum Wolfegg. Diese Wege werden in vier regionalen Wanderführern umfassend beschrieben (Oberschwaben, Vorarlberg, Schweiz, Tirol/Südtirol). Verfasser der Wanderführer ist Elmar Bereuter, Autor des Bestseller Romans „Die Schwabenkinder“.
Schwabenkinderdatenbank
Ein zentrales Element des Gesamtprojektes ist die Erstellung einer Schwabenkinderdatenbank. Dazu wurden in den Ortsarchiven des Landkreises Ravensburg sowie des Bodenseekreises Dienstbotenverzeichnisse ausgewertet, die für das 19. Jahrhundert eine dichte Überlieferung zur Geschichte des Schwabengehens zeigen. Dort erscheinen die Schwabenkinder mit Namen, Herkunftsort, Alter und Dienstherr. Die somit erhobenen 14.000 Datensätze von Schwabenkindern wurden von den einzelnen Projektpartnern vor Ort erneut geprüft und durch eigene biographische Datensätze aus den dort vorhandenen Schulakten ergänzt. Den Besuchern der Ausstellungen wird die Schwabenkinder-Datenbank wird mit über 8.000 Biographien, Informationen zu den Kindern und deren Dienstherren in Oberschwabenzugänglich gemacht, ebenso werden die Daten über die Projekt-Homepage zur Verfügung gestellt.
Ausstellung im Bauernhaus-Museum
Ab 24. März ist die Dauerausstellung „Die Schwabenkinder“ im Bauernhaus-Museum Wolfegg zu sehen, die sich über zwei historische Gebäude sowie auf das Außengelände erstreckt. Im Eingangsbereich des Museums, in der Zehntscheuer, zeigen vier Themenräume (Herkunft, Weg, Vermittlung und Alltag) die Geschichte und Geschichten der Schwabenkinder. In den einzelnen Räumen wird die klassische Museumsvermittlung mit Texten und Exponaten dargeboten. Weiters erfährt der Besucher in den Räumen via Audioguide personalisiert jeweils die Geschichte eines Schwabenkindes. Die Projektpartner sowie der Weg sind im Museum auf einer interaktiven Fotowand präsent. Auf festgelegten Fotopunkten, die über den Wanderführer und die projektspezifische Website kommuniziert werden, kann der Wanderer das so bestimmte Motiv fotografieren und das Foto dem Museum übermitteln; dieses wird dann in die Fotowand integriert. In dem 2001 in das Museum translozierten, 300 Jahre alten Blaserhof findet der Besucher zudem die Möglichkeit, sich in einem Geschichtslabor weiter über das Thema Schwabenkinder und Arbeitsmigration zu informieren sowie in der Schwabenkinderdatenbank zu recherchieren.
Projekt- und Kooperationspartner
Interreg IV-Projekt „Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein“
Deutschland
- Bauernhaus-Museum Wolfegg – Projektkoordinator
- Museum Humpis-Quartier Ravensburg
- Stadtarchiv Friedrichshafen
- Elmar Bereuter (Autor der Wanderführer)
Österreich
- Archiv der Landeshauptstadt Bregenz
- Stadtmuseum Dornbirn
- Angelika-Kauffmann-Museum Schwarzenberg
- Frauenmuseum Hittisau
- Kulturmeile Alberschwende
- Gemeinde Schröcken
- Verein Bregenzerwaldbahn, Bezau
- Montafoner Museen
- Klostertalmuseum Wald am Arlberg
- Museum Huberhus Lech
- Elementa Walgau
Interreg IV-Programm „Österreich-Italien“
- Museum Schloss LandeckAlpinarium Galtür
- Ski- und Heimatmuseum St. Anton
- Skimuseum Ischgl
- Hospiz St. Christoph
- Ubuntu, Kulturinitiative der SOS-Kinderdörfer in Imst
- Vintschger Museum Schluderns, I
Kooperationspartner
- Museum Regiunal Surselva, CH
- Museum Gandahus Vals, CH
- Alter Pfarrhof, Balzers, FL
- Kunstraum Pettneu, A
- Hopfenmuseum Tettnang, D
- Regio Bregenzerwald und Bregenzerwaldarchiv, A
- Regionale Tourismusverbände, D-A-CH-I
- Bodensee-Oberschwaben Verkehrsverbund (bodo)
- Bodensee-Vorarlberg Tourismus GmbH
- Oberschwaben Tourismus GmbH
Medienpartner
- Schwäbische Zeitung (D)
Zur Geschichte der „Schwabengängerei“
Die frühesten Quellen für eine Kinderwanderung aus den Alpen nach Oberschwaben auf der Suche nach Arbeit reichen ins 17. Jahrhundert zurück. Am 2. September 1625 berichtet der Pfleger auf Schloss Bludenz, Johann Conrad Kostner, an die Regierung in Innsbruck. Darin schreibt er über das Montafon: „wol ziehen alle Jahr zu Frühlingszeiten viel Kinder auf die Hüt nacher Ravensburg, Überlingen und ins Reich hin und wieder, welche aber vor und nach Martini zu Hause kommen.“
Diese seit dem 17. Jahrhundert bekannte und alljährliche Kinderwanderung erreicht ihren Höhepunkt erst Anfang des 19. Jahrhunderts, als vermutlich einige Tausend Kinder aus den Alpen nach Oberschwaben kamen. Schätzungen gehen von über 4000 Kindern jährlich aus.
1836 schreibt der Vorarlberger Kreishauptmann Ebner über das Montafon, dass bekanntlich die halbe Bevölkerung zeitlich auswandere und spricht von 700 Kindern, die allein aus dem Montafon wegziehen. Grund für die erhöhte Quote an saisonaler Auswanderung war u.a. ein Strukturwandel in der Landwirtschaft der Alpengebiete. Eine Klimaverschlechterung Anfang des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen Missernten hatte u.a. einen Rückgang des Getreideanbaus zur Folge. Und die damit zusammenhängende wirtschaftliche Verschlechterung traf ungünstig mit einem Bevölkerungsüberschuss zusammen. Eine gleichzeitig einsetzende Umstellung auf Viehwirtschaft versprach im Bergland auf kargen Böden steigenden Geldbetrag. Diese weniger arbeitsintensive Viehwirtschaft setzte allerdings auch viele Arbeitskräfte frei, denen vielfach nichts anderes übrig blieb, als im Ausland nach Arbeit zu suchen. Gebraucht wurden diese Arbeitskräfte – Erwachsene und Kinder – auf den größeren Betrieben in Oberschwaben, die u. a. nach der Vereinödung großen Arbeitskräftebedarf hatten. Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnende Vereinödung, dabei wurden Flurstücke zusammengelegt und das dörfliche Gemeinschaftsland aufgeteilt, vermehrte die Anzahl kleiner Weiler und von Einzelhöfen. Insbesondere ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als immer mehr oberschwäbische Landarbeiter und Dienstboten in die Städte abwanderten, bestand eine große Nachfrage nach Tiroler und Vorarlberger Hütekindern.
Auf den teils sehr beschwerlichen Weg machten sich Jahrhunderte lang Kinder aus Vorarlberg, Tirol, Graubünden und Südtirol. Alljährlich trafen die Kinder dabei Anfang März in Oberschwaben ein und hatten dann bis zu 250 Kilometer hinter sich gebracht. Bis zum Bau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese Strecken fast ausschließlich zu Fuß zurückgelegt. Im zeitigen Frühjahr und auch bei der Rückkehr im Spätherbst waren diese Wege besonders beschwerlich, da die Kinder mit allerlei Naturgewalten zu kämpfen hatten: Schnee, Schmelzwasser, Sturm, Lawinengefahr. Dazu kam die für die Witterungsverhältnisse ungenügende Ausrüstung. Meist trugen sie ihre wenige Habe in zu Rucksäcken umfunktionierten Kartoffelsäcken auf dem Rücken.
Die Vermittlung erfolgte meist Mitte März auf so genannten „Hütekindermärkten“. In Ravensburg war einer der wichtigsten Märkte.
Gebraucht wurden die jungen Saisonarbeiter für vielerlei Arbeiten: Im Stall, auf dem Feld, die Mädchen im Haushalt. Begonnen hat der Arbeitsalltag früh, meist um halb 5, geendet hat er sehr spät, besonders in der Erntezeit, manchmal nicht vor 23 Uhr. So wurde der chronische Schlafmangel für die Kinder eines der Hauptprobleme, mit denen sie zu kämpfen hatten. Regina Lampert, ein ehemaliges Schwabenkind, berichtet in ihrer Autobiographie über ihren Arbeitsalltag in Oberschwaben. Zu ihren Aufgaben gehörte, als sie 1864 in Berg in der Nähe von Friedrichshafen als Hirtenkind angestellt war, das Gänsehüten, auch das Gänserupfen, das ihr nicht viel Freude bereitete. Sie sagte darüber: „An der ersten hatte ich fast einen halben Tag, bittere Tränen habe ich geweint, bis ich endlich gemerkt habe, wies geht.“ Außerdem war sie Kindsmagd und Küchenhilfe. Damit sie überhaupt an die Töpfe kam beim Kochen, hat ihr der dortige Knecht einen langen Schemel rund um den Herd gebaut.
Das Urteil über gute oder schlechte Dienstplätze bemaß sich oft an der Güte und Menge des Essens und dem Maß an Integration in die Familie des Dienstherrn. Viele Schwabenkinder schwärmten noch im Alter von den großen Portionen Krautspätzle, reichlich Milch, Brot und Habermus sowie der abwechslungsreicheren Kost in Oberschwaben. Andere hingegen machten bittere Erfahrungen, zu wenig oder schlechtes Essen oder gar Misshandlungen durch die Bauersleute oder Knechte.
Die Schwabenkinder kamen fast alle aus kinderreichen Familien, deren Lebensgrundlage nicht für alle Familienmitglieder ausreichte. Alternativen zur Auswanderung gab es kaum, denn aufgrund der geographischen Lage in den engen Alpentälern entwickelte sich Handel und Industrie relativ spät. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Arbeitsplätze im großen Stil durch den Eisenbahnbau, die den Rückgang der saisonalen Arbeitsauswanderung bewirkte. Bereits um 1900 kamen nur noch wenige Kinder aus Graubünden, 1915 verbot die Tiroler Regierung generell die Auswanderung der Kinder, lediglich aus dem nahe gelegenen Vorarlberg kamen Kinder bis zum 2. Weltkrieg nach Oberschwaben bzw. ins Allgäu.
Die Akteure
Stefan Zimmermann ist Museumsleiter des Bauernhaus-Museums Wolfegg. Das von der EU unterstützte Projekt begleitet er seit Anbeginn. Er wurde am 25.06.1979 in Ulm geboren. In Augsburg studierte Stefan Zimmermann Neuere und Neueste Geschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Politikwissenschaft. Nach einem wissenschaftlichen Volontariat im Bauernhaus-Museum Wolfegg und wissenschaftlichen Tätigkeiten im Haus der Bayerischen Geschichte Augsburg, sowie für das Museum der Brotkultur Ulm, leitet er seit September 2010 das Museum in Wolfegg.
Christine Brugger ist verantwortlich für die Koordination der Projekte „Die Schwabenkinder“ und „Der Weg der Schwabenkinder“. Christine Brugger wurde am 02.09.1974 in Ravensburg geboren. Sie studierte mittelalterliche und alte Geschichte, sowie Italienisch in Tübingen und Pisa. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bauernhaus-Museum Wolfegg. Ihre freiberuflichen wissenschaftlichen Tätigkeiten übt sie im Kultur- und Archivbereich des Ravensburger Stadtmuseums sowie dem Stadtarchiv aus. Weiters ist sie redaktionell für „Stadtlandfluss“ – Das Kulturmagazin der Städte Ravensburg und Weingarten tätig.
Elmar Bereuter, Verfasser der Wanderführer zu dem Projekt, wurde als ältestes von vier Kindern 1948 in Lingenau/Bregenzerwald geboren. In der Bauernfamilie verbrachte er seine Kindheit zwischen dem Dorfleben und der Alpwirtschaft im Bregenzerwald und dem über 500 km entfernten Internat in Graz. 2002 hat er seinen ersten Roman Die Schwabenkinder geschrieben, der als Vorlage für den Film Schwabenkinder diente. Dabei arbeitete Elmar Bereuter mit dem Regisseur Jo Baier zusammen. Sein Buch, das zum Bestseller wurde, machte ihn bekannt und weitere Romane folgten. Heute lebt er mit seiner Frau und vier Kindern auf der deutschen Seite des Bodensee bei Tettnang.
Herbert Moser ist künstlerischer Leiter des Projektes „Die Schwabenkinder“ und federführend für die museale Gesamtkonzeption. Er wurde am 11.01.1962 in Tübingen geboren, ist seit 2001 Professor an der Dualen Hochschule Ravensburg und leitet den Studiengang Mediendesign. In seiner Tätigkeit als Designer arbeitete er u.a. für Auftraggeber wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung oder die Schwedische Botschaft in Berlin. Als freier Künstler trat Herbert Moser zuletzt mit zwei Ausstellungen in Erscheinung: In der Ausstellung "Blendwerk" im Schloss Achberg sowie einer Einzelausstellung in der Kunst-Raum-Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Weingarten.
VON M – Das kreative Dreigestirn aus Stuttgart, Matthias Siegert, Myriam Kunz und Dennis Mueller. Sie zeichnen verantwortlich für Design und Architektur der Dauer-Ausstellung im Bauernhaus-Museum Wolfegg. Die Arbeiten des Büros wurden in den letzten Jahren mehrfach mit nationalen und internationalen Auszeichnungen bedacht. Charakteristisch für ihre Arbeiten ist eine offene und unbefangene Herangehensweise an die gestellte Aufgabe. Die Reduktion auf das Wesentliche schafft dabei klare und wirkungsvoll einfache Lösungen. Im Spannungsfeld zwischen Architektur und medialer Raumgestaltung entstehen dabei immer wieder Querverweise zu dem jeweiligen anderen Arbeitsbereich. Die Projekte werden dadurch facettenreicher, Gestaltungskonzepte und Entwürfe erhalten ihre Qualität auf mehreren Ebenen und sind differenzierter wahrnehmbar.
MOCCU ist eine Kreativagentur für digitale Medien. Seit 2000 planen, gestalten und realisieren die Berliner interaktive Kommunikation auf einem hohen visuellen und technischen Niveau. Jens Schmidt, der Gründer von Moccu und international ausgezeichnete Kommunikationsdesigner, konnte für die digitale Kommunikation der beiden Projekte gewonnen werden. Moccu’s Kreativdirektor Jens Schmidt ist zudem Mitglied im Art Directors Club und Dozent am Institute of Design (Berlin). Die Agentur, mit Sitz in Berlin, wurde in der Vergangenheit mit so renommierten Preisen wie Goldener Löwe in Cannes, EMMA, Gold und Silber bei den New York Festivals, red dot, Deutscher Multimedia Award, ADC Silber, Annual Multimedia Award und iF communication design award ausgezeichnet.
Text und Bilder: Bauernhaus-Museum Wolfegg
Wir bedanken uns für Ihr Belegexemplar.