Das Schwabengehen
„Daheim war nirgends kein Verdienst“ – so charakterisierte Hermann Mangott aus Tirol, eines der letzten Schwabenkinder, im Alter von 80 Jahren die Gründe für das Schwabengehen. Als Schwabenkinder oder Hütekinder werden die Kinder armer Bergbauernfamilien aus den Alpen bezeichnet, die seit dem 17. Jahrhundert bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts alljährlich nach Oberschwaben zogen, um auf „Hütekindermärkten“ als Saisonarbeitskräfte an oberschwäbische Bauern vermittelt zu werden.
Sechs Jahrzehnte nachdem die letzten Schwabenkinder auf Wanderschaft gehen mussten, begibt sich nun ein EU-gefördertes Projekt auf ihre Spuren und verbindet die Herkunftsgebiete der Kinder im Alpenraum mit ihrem ehemaligen Arbeitsplatz in Oberschwaben. Partner des Projektes, das die fünf Alpenländer Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein und Italien miteinander verbindet, sind die Museen und Stadtarchive in Wolfegg, Ravensburg, Friedrichshafen, Bregenz, Dornbirn, Schwarzenberg, Hittisau, Alberschwende, Schröcken, Bezau, Elementa Walgau, Lech, Wald, Schruns, Landeck, Galtür, Ischgl, St. Anton, St. Christoph , Imst, Schluderns, Vals, Ilanz und Balzers. Dort werden kleine und größere Dauerausstellungen verschiedene Aspekte der Schwabenkindergeschichte schildern: Weshalb beispielsweise waren es gerade die Kinder, die aus der Heimat fort mussten oder wie kamen sie überhaupt im 19. Jahrhundert in ein mehrere Tagesmärsche entferntes Land? Wie erging es einzelnen Kindern im Schwabenland und welche Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielte der Hütekindermarkt? Als verbindendes Element zwischen den einzelnen Ausstellungsstationen wird im Rahmen des Projekts ein Themenwanderweg gekennzeichnet. Auf den ehemaligen, meist beschwerlichen Routen der Schwabenkinder führt er über die Alpen nach Oberschwaben und lädt zum Nachwandern der Strecke und zum Erinnern an die verunsicherten und wesentlich schlechter ausgerüsteten und genährten Schwabengänger ein.
Grenzüberschreitende Kooperation und Forschung
Die Idee zu diesem Projekt ist im Bauernhaus-Museum Allgäu-Oberschwaben Wolfegg entstanden. Spätestens seit dem Roman „Die Schwabenkinder“ von Elmar Bereuter aus dem Jahr 2002 sowie dem Fernsehfilm „Schwabenkinder“ aus demselben Jahr ist das Thema weiten Teilen der süddeutschen sowie Vorarlberger Bevölkerung bekannt. Ein grenzüberschreitendes Thema wie das der Schwabenkinder wurde somit zum Anlass genommen über die Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten und gemeinsam ein verbindendes Thema aufzuarbeiten. Unterstützt wird das Projekt durch „Interreg“, ein Regionalprogramm der Europäischen Union zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Erklärtes Ziel des Interreg-Programms ist es, Grenzräume ausgewogen zu entwickeln, Grenzen noch durchlässiger zu machen sowie einen Anreiz zu schaffen, neue Netzwerke zu bilden, um damit einen Beitrag zur europäischen Integration zu leisten.
Konkretes Ziel des Projektes ist zum einen die wissenschaftliche Aufarbeitung und Präsentation des Themas Schwabenkinder in Dauerausstellungen der beteiligten Museen und zum anderen die Ausweisung des Themenweges zum Nachwandern der ehemaligen Routen und seine Vermarktung. Eine dritte Absicht liegt darin, durch ein verbindendes Thema die Museen und Archive zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit zu bringen und stärker miteinander zu vernetzen.
Ein Teil des Projektes ist die Einrichtung einer Schwabenkinderdatenbank, die gemeinsam von allen beteiligten Partnern erstellt wird. Dafür werden in Oberschwaben (Landkreis Ravensburg, Bodenseekreis sowie Landkreis Lindau) die in den Ortsarchiven vorhandenen Dienstbotenverzeichnisse ausgewertet, die sich vor allem auf das 19. Jahrhundert erstrecken. In diesen sind neben den erwachsenen Knechten und Mägden in der Landwirtschaft auch die Schwabenkinder mit Dauer der Anstellung, Dienstherr sowie teils mit Angaben zu Lohn und Betragen eingetragen. Die dort erhobenen statistischen Angaben zur Anzahl der Saisonkräfte im Jahreslauf, zu Familiennamen, Durchschnittsalter, Herkunftsorten, Dienstherren, Geschlechterverteilung etc. werden in eine Datenbank einfließen, die in den beteiligten Museen und Archiven abrufbar sein wird.
Dauerausstellung in Wolfegg
Die Dauerausstellung zum Thema Schwabenkinder im Bauernhaus-Museum Allgäu-Oberschwaben Wolfegg wird der größte Baustein des grenzüberschreitenden Projektes sein. Für das Bauernhaus-Museum mit seinem Fokus auf die Sozial- und Bewohnergeschichte seiner Gebäude liegt das Thema „Schwabenkinder“ zudem nahe, da diese über Jahrhunderte hinweg oberschwäbische Bauernhöfe mitbewohnten. In drei Gebäuden sowie auf dem Gelände des Museums sind Ausstellungsteile vorgesehen, die sich dem Thema auf unterschiedliche Weise nähern.
Mit dem Thema „Schwabenkinder“ sind jedoch auch ganz aktuelle Aspekte von Migration und Integration verbunden. So ist es möglich, nicht nur Kinder im Grundschulalter, sondern auch Jugendliche und Erwachsene mit einem breit gefächerten museumspädagogischen Programm anzusprechen. Daher werden Vermittlungsarbeit und Museumspädagogik ein zentraler Punkt des Schwabenkinderprojektes sein.
Ein Themenwanderweg verbindet
Ein weiterer übergreifender Teil des Schwabenkinder-Projektes ist der Themenwanderweg „Der Weg der Schwabenkinder“. Er verbindet die Ausstellungsstationen in den kooperierenden Museen miteinander und führt aus Südtirol über Tirol und Vorarlberg bzw. von Graubünden nach Oberschwaben. Als Basis dienen die historischen Wege, die die Schwabenkinder aus dem Alpenraum nach Oberschwaben gegangen sind. Allerdings werden sie den örtlichen Gegebenheiten angepasst und in einzelne Etappen unterteilt, um sie touristisch nutzbar zu machen. Die einzelnen Etappen werden in einem Wanderführer erläutert, den der Bregenzerwälder Autor Elmar Bereuter erarbeitet. Die Publikation wird in vier regionale Bände geteilt (Oberschwaben, Vorarlberg, Schweiz, Nord- und Südtirol). Ziel der Bücher ist nicht nur die bloße Wegbeschreibung, sie sollen den Wanderern auch kulturellen Besonderheiten und sozialgeschichtliche Hintergründe zum Leben der Schwabenkinder vermitteln.