Heimat der Schwabenkinder
Die Schwabenkinder stammten fast ausnahmslos aus alpinen Regionen südlich des Bodensees: Vorarlberg und Tirol in Österreich; Graubünden, Teile des Rheintals und Appenzell in der Schweiz; Liechtenstein und das Vinschgau in Südtirol/Italien. Die Bevölkerung dieser Regionen lebte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vorwiegend von der Landwirtschaft. Das Betreiben der Landwirtschaft im alpinen Raum war nur unter erschwerten Bedingungen möglich, da der Großteil der Agrarflächen aus Berggebiet bestand, sich die Vegetationszeit mit steigender Höhe verringert und die Steilheit vieler Geländepartien überdies eine Erschwerung der Arbeit bedeutete.
Bergbauern in den Alpen
In den Herkunftsregionen der Schwabenkinder wurde im Erbfall meist die Realteilung praktiziert – mit schwerwiegenden sozialen und ökonomischen Folgen. In der Landwirtschaft führte die fortgesetzte Realteilung zu einer Aufsplitterung des Ackerlandes in eine Vielzahl kleiner Äcker. Diese brachten kaum Ertrag und ein relativ hoher Anteil der nutzbaren Fläche ging für Grenzstreifen und Zufahrtswege verloren. Gerade der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aufgrund der Fortschritte im Gesundheitswesen vermehrt auftretende Kinderreichtum barg in Zusammenhang mit der Realteilung ein hohes Armutsrisiko in sich. Zahlreiche Familien waren verschuldet und die Folgen von Naturkatastrophen oder Kriegen verschärften diese Krisensituation drastisch. Staatliche Maßnahmen z.B. Ehebeschränkungen blieben nahezu wirkungslos. Das Zusammenwirken der Folgen von Überbevölkerung, Kleinbesitz und Armut blieb über Jahrhunderte wirksam und verhinderte eine spürbare Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation.
Auf dem Weg
Vor dem Aufkommen der Eisenbahn war der Weg durch die Alpen eine zeitraubende und beschwerliche Angelegenheit. Auch große Entfernungen wurden zu Fuß zurückgelegt. Der Transport von Waren erfolgte mit einfachen Fuhrwerken oder Saumtieren. Die Schwabenkinder nutzten ebenfalls die bekannten Wege und Pfade. Die Streckenführung hing von der jeweiligen Begleitperson und den Witterungsbedingungen ab, die Umwege nötig machen konnte. Anders als heute verliefen die historischen Fußpfade nicht zwangsläufig im Tal. Meist wählt man den direkten, kürzesten Weg und nahm steile Abschnitte in Kauf.
Das größte Hindernis auf dem Weg stellten die Pässe dar. Die Kinder aus Tirol mussten den Arlbergpass (1793 m) überwinden, die Vintschger Kinder zudem den Reschenpass (1405 m). Dort lag zu Beginn der Wanderung Anfang März oft noch meterhoch Schnee. Für die Schwabenkinder aus Vorarlberg waren die Wege am kürzesten. Die Entfernung aus Graubünden war zwar mit nahezu 200 km sehr groß, die Wege verliefen aber zum größten entlang des Rheins und deshalb ohne große Steigungen. Erst der Bau des 10 km langen Arlbergtunnels 1884 erleichterte die Reise der Tiroler und Südtiroler Kinder beträchtlich.
Für die im März und im November im hochalpinen Gebiet herrschenden Witterungsbedingungen mit Schnee, Sturm und Lawinen waren die Schwabenkinder meist ungenügend ausgerüstet. Dünne Kleidung und schlechtes Schuhwerk führten oft zu Erfrierungen. Unterwegs waren die Kinder in kleineren Gruppen mit bis zu 30 Personen. Je nach Heimatort und Witterung legten sie den Weg in 2 bis 10 Tagen zurück. Fußmärsche von 30 km am Tag waren keine Seltenheit.
Durchgangsstationen
Da die meisten Eltern ihren Kindern wenig oder keine Wegzehrung mitgeben konnten, war es den Schwabenkindern vor der Abreise erlaubt, den sogenannten „Zehrpfennig“ zu erbetteln. Oft reichten die wenigen Münzen aber nicht für die Verpflegung auf der gesamten Reise aus. So kam es immer wieder vor, dass sich die Einwohner von Bregenz oder Dornbirn über die Straßenbettelei beschwerten. Die erwachsenen Begleitpersonen nutzten zur Übernachtung meist feste Anlaufstellen wie Klöster, Gasthäuser oder Bauernhöfe. Geschlafen wurde in Scheunen, im Stall oder unter Wirtshaustischen. Mahlzeiten boten die auf dem Weg liegenden Klöster an.
Das Hospiz St. Christoph am Arlbergpass diente seit dem Mittelalter dem Schutz vor Wetterkapriolen. In der dortigen Kapelle suchte manches Schwabenkind bei der Statue des Hl. Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden, Trost. Kleine Bildstöcke wie das Rearakapalli (reara heißt weinen) am Zeinisjoch gab es an vielen Orten. Dort nahmen die Kinder aus dem Paznauntal Abschied bevor der Abstieg ins Montafon erfolgte.