Ravensburg als zentraler Hütekindermarkt
Zur Arbeitsvermittlung von erwachsenen Dienstboten dienten wohl seit dem Mittelalter die Wochenmärkte. So auch in Ravensburg, wo seit dem 17. Jahrhundert nicht nur erwachsene Knechte und Mägde vermittelt wurden, sondern auch Vorarlberger und Tiroler Kinder. Am Rande dieses Wochenmarktes entwickelte sich ein eigener Gesindemarkt für Kinder, der im 19. Jahrhundert seinen eigenen Platz in der Bachstraße vor dem damaligen Gasthaus Krone fand und Schwabenkindermarkt oder Hütekindermarkt genannt wurde. Die früheste schriftliche Erwähnung dieses speziellen Marktes findet sich 1823 im Correspondenzblatt des Württembergischen Landwirtschaftlichen Vereins: „Ein besonderes Interesse gewährt auch der jedes Frühjahr stattfindende Markt mit Tyroler – und Schweizer Kindern, die daselbst ankommen um sich an Bauern der dortigen Gegend als Treib- und Hirtenbuben und als Kindsmägde zu verdingen“. Traditionell wurde der Hütekindermarkt am kirchlichen Feiertag Josefi, am 19. März, abgehalten. Wie viele Kinder sich auf dem Hütekindermarkt verdingen mussten, war unterschiedlich. In besonderen Hungerszeiten, wie beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts, ist von 3-4000 Kindern die Rede, die auf der Suche nach Arbeit auf dem Markt in Ravensburg angelangten.
Die Spätphase des Hütekindermarktes in Friedrichshafen
Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Hütekindermarkt in Ravensburg eine zentrale Bedeutung. Erst mit der aufkommenden Dampfschifffahrt auf dem Bodensee verlagerte sich der Marktstandort zunehmend nach Friedrichshafen. Die Schiffe aus Bregenz oder Rorschach mit den Schwabenkindern an Bord legten in Friedrichshafen an. Zunächst blieben beide Märkte parallel bestehen, wurden zeitlich sogar aufeinander abgestimmt: So bekamen beispielsweise im Jahr 1897 von 300 Kindern bereits 220 einen Arbeitsvertrag in Friedrichshafen, während rund 70 weiter nach Ravensburg fuhren. Informiert wurden die Bauern über eine Zeitungsannonce im Oberschwäbischen Anzeiger, welche die Marktzeiten mitteilte. Ins Interesse der internationalen Öffentlichkeit geriet der Markt 1908, als eine deutschsprachige Zeitung in Cincinnati über die Vermittlung der Kinder berichtete und diese als Sklaverei anprangerte.
Vermittlung und Hütekinderverein
Die Vermittlung der Kinder an die Bauern wurde meist „Verdingung“ genannt und erfolgte auf die gleiche Weise wie bei Dienstbotenmärkten für Erwachsene. Ein Bauer wählte ein für die anfallende Arbeit geeignetes Kind aus und vereinbarte mit dem Begleiter des Kindes oder mit dem Kind selbst die Art der Arbeit und den Lohn. Wenn sich beide einig waren, erfolgte per Handschlag die Übereinkunft. Dann zahlte der Bauer dem Kind das „Haftgeld“, ein kleiner Geldbetrag, der als Zeichen des Vertragsabschlusses galt. Meist folgte darauf ein gemeinsames Essen in einem Gasthaus – für manche Schwabenkinder nach langer Zeit die erste Gelegenheit, sich einmal satt zu essen.
Im Jahr 1891 wurde der „Verein für Hütekinder und jugendliche Arbeiter für Tirol und Vorarlberg“ gegründet. Die Initiatoren, der Pfarrer Venerand Schöpf und der Gemeindevorsteher von Pettneu (Tirol) und Landtagsabgeordnete Franz Josef Geiger, wollten damit die Situation der Schwabenkinder verbessern. Ziel des Vereins war es, die Anreise der Kinder zu erleichtern – beispielsweise durch ein Charterschiff von Bregenz nach Friedrichshafen –, für eine gute Unterbringung in Oberschwaben zu sorgen sowie mittels Dienstverträgen darauf zu achten, dass die Lohnzusagen eingehalten wurden.
Andere Marktorte
Nicht nur in Ravensburg und Friedrichshafen bestanden Hütekindermärkte. Zu verschiedenen Zeiten gab es in Oberschwaben weitere Marktorte in Wangen, Tettnang, Weingarten und Waldsee. Sie fanden bei Bedarf zusätzlich zum großen Hütekindermarkt in Ravensburg statt. Kinder aus Tirol, die Arbeit im bayerischen Allgäu fanden, nahmen ihren Weg meist über einen weiteren großen Hütekindermarkt in Kempten.
Neben der Vermittlung der Kinder auf dem Markt gab es aber immer auch den direkten Kontakt zwischen Schwabenkindern und oberschwäbischen Bauern: Kinder, die ihre Dienstgeber bereits aus dem Vorjahr kannten oder über Verbindungen von Verwandten, Freunden oder Nachbarn ihre Dienstgeber fanden, brauchten sich dadurch nicht auf einem der Märkte verdingen.